Autorin: Aline Schoch
Kapitel: Die Spaziergangswissenschaft, Perlentauchen in der Stadt
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Die Spaziergangswissenschaft hat in erster Linie einen Perspektivenwechsel zum Ziel und nimmt ihre Teilnehmenden auf eine Reise mit zu unbekannten Aspekten von wohl bekannten Landschaften ruraler oder urbaner Art. Die Spaziergangswissenschaft reflektiert Funktionsweisen und Bedingungen der Wahrnehmung und kann dabei zusätzlich als didaktisches Mittel genutzt werden, um auf diese Wahrnehmungen gesellschaftlich und individuell einzuwirken. Sie vereint Elemente der Soziologie, Stadtentwicklung, Politik und Kunst. Vorliegender Artikel benennt die Grundelemente der Spaziergangswissenschaft und wie diese mit kleinen Interventionen innovativ genutzt werden können, um sich einen neuen Blick auf Bekanntes anzueignen.
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Der
Verfremdungseffekt, der häufig durch künstlerisch-performative Interventionen, wie beispielsweise dem Brotbaum auf dem Tahiti-Spaziergang, hergestellt wird, kommt dabei eine zentrale Funktion zu. Damit werden die sozialkonstruktivistischen Aspekte der Landschaftswahrnehmung offengelegt und reflektierbar. […] Dieser Persepektivenwechesel irritiert im ersten Moment, veranlasst infolgedessen eine kritische Reflexion über das Wohlbekannte und kann so einen Umdeutungsprozess anstossen.
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Neben der Stadtplanungskritik, setzte sich Burkhardt für eine partizipative Stadtentwicklung ein. Er betrachtete die
Bewohnenden und Laien als die wahren Experten, deren Meinung und Perspektive als Endnutzende eines möglichen planerischen Eingriffs unbedingt in einen gelingenden Plaungsprozess integriert werden sollten.
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Dabei geht es Burckhardt auch darum, das Bild einer technizistischen Stadtplanung, mit klaren Problemen und eindeutigen Lösungen, die scheinbar nur von Fachleuten und zumeist mit einem Bau gelöst werden können, zur Debatte zu stellen.
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Das erste Bindeglied zwischen dem Schweizer Urbansoziologen [Lucius Burckhardt] und dem französischen Philosophen [Henri Lefebvre] ist das grundlegende Konzept der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und gebauter Umwelt: Die Gesellschaft produziert in einem Interaktionsprozess Räume, die wiederum auf die Gesellschaft einwirken.
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Damit ergeben sich vielfältige Chancen, vom Bestehenden ausgehend durch einen Perspektivenwechsel Erkenntnisgewinne über unsichtbare Soziodesigns des Urbanen sowie Elemente der Wahrnehmungskonstruktion im Allgemeinen zu erlangen.
Autorin: Jaqueline Parish
Kapitel: Gehen als Planungsfaktor zur Stadterneuerung durch öffentliche Räume in der Stadt Zürich
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Das Gehen gewinnt heute insbesondere aufgrund der Verdichtung der Städte wieder an Bedeutung. Dies zeigen aktuelle Auswertungen des Bundesamts für Raumentwicklung zum Verkehrsverhalten in der Schweiz nach Dichte-Indikatoren. Über die Hälfte der Menschen in dichten Gebieten gehen mehrheitlich zu Fuss (57%, Tendenz steigend). Somit sind Städte angehalten, nicht nur bei Neubauten und deren Zwischenräume Qualität einzufordern, sonder auch dem öffentlichen Stadtraum, der zur Vernetzung im Quartier und zur Naherholung dient, Aufmerksamkeit zu schenken. […]Laut wird in der lokalen Politik ein besseres und zusammenhängendes Fahrradverkehrsnetz gefordert und jeder abgebaute Parkplatz scheint für das lokale Gewerbe sofort Verlustgeschäfte einzubringen – glaubt man den lokalen Journalisten und Gewerbebetreibern. Relativ still ist es dabei, wenn es um das eigentliche Fortkommen zu Fuss geht.
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Verdichtung braucht mehr Raum für freie AneignungDieser [der Alltag] spielt sich für den Grossteil der Menschen nicht in faszinierenden Hochhäusern ab, sondern in schlichten Wohnbauten, neuen Siedlungen und im Zwischenraum. Strassen und Plätze prägen den Stadtraum und die Lebensqualität – also den Alltag der Menschen. Dadurch wird die Qualität dieser Räume zu einem Schlüsselelement der Innenentwicklung.
Qualität Zwischenraum24
Eine Arbeit des Zürcher Architekten und Künstlers Christoph Haerle zeigt eindrücklich, wie Verkehrsschilder der vor elf Jahren sanierten Hegibachplatz in Zürich prägen und wie die Schilder ihn als Verkehrsraum für das Auto zeichnen.
Hegibachplatz vs. Bullingerplatz25
Fussgängerinnen und Fussgänger wurden damit erstmals zu einer Kategorie: Sie wurden als Verkehrsfunktion definiert und räumlich auf das Trottoir verbannt, also buchstäblich an den Rand gedrängt. Sie mussten sich gemäss Daniel Kurz «ein neues Verhalten aneignen, das dem Arbeitsplatz der Moderne glich: Konzentration, Disziplin, Kontrolliertheit von Blick und Bewegung wurden erzogen und überlebenswichtig.»
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Gemeinsames Gestalten – Piazza Pop-up
https://www.stadt-zuerich.ch/ted/de/index/taz/erhalten/temporaere_nutzungen/piazza_pop_up.html
Anny-Klawa-PlatzCassiopeiastegSechseläutenplatz30
Der Platz [Sechseläutenplatz] zeichnet sich durch ein spannendes Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit aus. Gruppen oder Paare schaffen sich zum Teil kleine, temporär private Inseln, während andere die Öffentlichkeit für ihre Performance nutzen. Die Grösse des Platzes lässt so gleichzeitig Rückzug und Exponierung zu.
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Vielleicht brauchen wir wieder mehr Möglichkeiten zur kreativen Zweckentfremdung des öffentlichen Raums, damit häufiger Begegnungen mit dem Ungewohnten entstehen – als Zeichen von urbaner Qualität. Dies beginnt mit der Bereitschaft auf Abwege zu geraten, Normen zu hinterfragen und neue Nutzungen zu testen.
Autorin: Anne Lacaton
Kapitel: Die Wohnung: Masseinheit der Stadt
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Gut zu wohnen heisst, sich gut in seinem Zimmer, seinem Wohnzimmer, auf dem Gang oder im Eingangsbereich zu fühlen. Es bedeutet, Wohlbefinden in der Familie oder in anderen sozialen Konstellationen der Wohngemeinschaft zu erfahren – ohne Überlastung noch Beengtheit. Gut zu wohnen bedingt, nah an Dienstleistungen und Geschäften zu sein, beim Spazieren im Park Erholung zu finden und bei Begegnungen mit anderen einen positiven sozialen Austausch zu erleben.
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Niemals von null beginnen, sondern einen Zustand verbessern, das Bestehende annehmen, es transformieren und für ganz anderes öffnen. Diese Herangehensweise erfordert eine genaue Beobachtung in situ und Kenntnis des Kontexts, um die Kapazitäten der Gebiete und ihr Potential zu erkennen. Aus diesem Grund erfordern die Bestandsaufnahmen, so nah wie möglich an den gegebenen Situationen zu sein.
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Er [der Angeklagte in «Die Panne»] identifiziert sich – geschmeichelt durch die Tatsache, einen als genial deklarierten Mord begangen zu haben – mit einem Fremdbildnis seiner selbst, anstatt den Blick von aussen als Inspiration zur Selbstreflexion zu nutzen, was Dürrenmatt fatal enden lässt.